Ich weiß noch, wie am Ende des Jahres 2016 alle stöhnten, das Jahr möge bald vorbei sein. So viel war passiert: Anschläge im In- und Ausland, die weltpolitische Lage, Unruhen, und als dann gegen Ende des Jahres beinah jeden Tag eine Person des öffentlichen Lebens das zeitliche segnete, wollten alle nur noch, dass der Jahreswechsel kommt. Als würde das etwas ändern. Einige meinten leise, dass 2017 vielleicht die persönlichen Tragödien bereit hielte; daran musste ich oft denken in der letzten Zeit. Denn wir hatten in diesem Jahr wohl wirklich das, was man eine schwere Zeit nennt. Nach einem turbulenten Frühjahr, einem schweren Verlust im Frühsommer, sich überschlagender Arbeit und all dieser kleinen und größeren Katastrophen im Alltag, waren wir irgendwann nur noch froh, uns in den Urlaub retten zu können. Während des Urlaubs hatten wir noch eine Hochzeit und eine Beerdigung vor uns, und danach sollte endlich alles ruhiger werden.
Wurde es aber nicht, denn wir waren nach dem Urlaub keine zwei Tage daheim, da fing Lieschens Knie an zu schmerzen. Zuerst nahm ich das gar nicht ernst, die Kinder toben eben viel, sind den ganzen Tag auf den Knien rum gerutscht und gut, beim Radeln in den Garten wurden sie dann quengelig. Aber am nächsten Tag schwoll das Knie stark an. Eigentlich wollte ich noch einen Tag abwarten, aber Liese konnte nur noch humpeln, so dass wir doch noch schnell zur Kinderärztin gingen. Die schickte uns direkt in die Kinderklinik in der Amsterdamer Straße, wo wir den ganzen Dienstag verbrachten, das Kind im Rollstuhl, abwechselnd in der Ambulanz und in der Radiologie zum Ultraschall. Mit einem abschwellenden, entzündungshemmenden Medikament wurden wir nach hause geschickt. Der Arzt war kein bisschen beunruhigt, empfahl uns aber, wieder zum Kinderarzt zu gehen, falls die Schwellung nicht nachließe. Für den Rest der Woche sollte die Kleine zuhause bleiben, durch das Treppenhaus der Schule wäre sie ohnehin nicht gekommen. Dass sie damit den Schulanfang verpasste und auch an den Auftritten für die neuen Schulkinder nicht teilnehmen konnte, machte Liese sehr traurig – aber was hilft’s, wenn man nicht allein laufen kann.
Am Donnerstag dann sah das Knie aber immer noch nicht besser aus, so dass wir zu unserer Kinderärztin gingen. Sie überwies uns direkt wieder in eine Kinderklinik, diesmal eine mit einer spezialisierten Abteilung auf Rheuma. Da sie Sorge hatte, das Gelenk könnte bei einer längeren Schwellung Schaden nehmen und eine Krankheit unerkannt bleiben, sollte dort eine ausgiebige Diagnostik gemacht werden. Wir fuhren also direkt dorthin und warteten 3 Stunden in der Ambulanz. Als wir dann endlich dran kamen, war es für die meisten Untersuchungen schon zu spät, aber Rheuma-Diagnostik würde dort eh nur stationär gemacht werden und ein negativer Borrelien-Befund sei dafür Vorraussetzung. Das Blut dafür war glücklicherweise schon in der ersten Kinderklinik abgenommen worden. Wir sollten also Freitag möglichst früh den Borrelien-Befund von dort heranschaffen, dann mit dem Kind nüchtern in die Klinik fahren, damit das Knie unter Kurznarkose punktiert werden könne. Die Ärztin besorgte uns noch ein Bett, damit wir am nächsten Tag stationär aufgenommen werden könnten und schickte uns heim. Ein bisschen mulmig war uns, aber wir machten eine dicke Lasagne am Abend, damit die Kleine den nächsten Morgen nüchtern gut überstand.
Wir erreichten am nächsten Morgen natürlich niemanden vor 9 Uhr in der Amsterdamer Straße. Leichter wäre es vermutlich gewesen, die Kliniken hätten einfach mal miteinander telefoniert. Als wir den negativen Borrelien-Befund dann endlich hatten, fuhren wir sofort in die Kinderklinik; dort war es aber dann schon fortgeschrittener Vormittag, als wir ankamen. Die Ärztin in der Ambulanz tat dann plötzlich so, als hätten wir schon um 8 Uhr für die Punktion da sein sollen, da hätte angeblich ein Team für die Punktion bereit gestanden, jetzt wären die Ärzte aber alle in Besprechungen. Davon wußten wir nichts, konnten zu dem Zeitpunkt natürlich auch nicht mehr ändern, dass wir nicht früher jemanden erreicht hatten wegen des Borrelien-Befundes. Das tat ihr dann aber doch ein bisschen leid, vor allem weil die Kleine weit nach 11 Uhr immer noch nüchtern war, so dass sie herumtelefonierte, um Ärzte für die Kniepunktion zusammen zu trommeln. Wir gingen auf die Station und hatten nach kurzer Wartezeit plötzlich 5 Ärzte um uns herum, die alle die Punktion machen wollten. Das war ein bisschen wie im Film, vor allem als dann der Chefarzt kam und darauf bestand, die Punktion selbst zu machen. Noch während ich über die Risiken belehrt wurde, wurde alles vorbereitet und Liese unter Kurznarkose schlafen gelegt. Das alles ging ziemlich schnell und reibungslos, doch während die Kleine noch schlief, bekam ich so langsam mit, auf welcher Station wir aus Platzgründen gelandet waren. In unserem Zimmer war ein 16 Monate altes Mädchen, sie hatte die Operation zweier Nierentumore vor ein paar Wochen hinter sich gebracht und wurde an die Chemo angeschlossen, während Liese langsam wach wurde.
Als Liese richtig wach war, ging es ihr direkt schon viel besser. Die Schwellung war durch die Punktion fast komplett abgezogen worden, so dass sie ihr Knie schon wieder ziemlich gut bewegen konnte. Die Ärzte waren zwar sehr überrascht gewesen, als sie einen Bluterguss aus dem Knie zogen – damit war kindliches Rheuma quasi ausgeschlossen – aber was das nun genau bedeutete, sagten sie uns auch nicht so richtig. Wir verbrachten das Wochenende in der Klinik und versuchten uns die Zeit so gut wie möglich zu vertreiben. Besuche durch die Familie waren nicht ganz so einfach, weil wir auf der Onkologie waren und Kinder unter 12 Jahren wegen der Infektionsgefahr nur nach ärztlicher Untersuchung auf die Station durften. Aber wir hatten großes Glück mit dem diensthabenden Arzt am Wochenende, der uns öfter mal aufmunterte, zum Lachen brachte und die Bettruhe zumindest teilweise aufhob, so dass wir im Rollstuhl spazieren gehen und an die frische Luft konnten. Wir erlernten Fähigkeiten, an die wir vorher im Traum nicht gedacht hätten: Liese lernte, sich mit einem Rollstuhl fort zu bewegen und ich lernte, möglichst ohne Schmerzen ein Kind anzuziehen, das eine Zugang in der Hand hat. Eigentlich sind das Fähigkeiten, auf die man lieber verzichten würde.
Ich lernte eine nette Mama auf der Station kennen, die ganz froh war, dass ihr 3jähriger Sohn eine Form der Leukämie hat, die leichter zu behandeln ist. Sie erzählte mir, dass sie ursprünglich wegen einer Magen-Darm-Geschichte in die Klinik gefahren wären, dass der Krebs ein Zufallsfund gewesen war. Und sie erzählte mir, wenn die Ärzte sagten, sie würden nochmal Blut abnehmen, um Gerinnungsfaktoren zu überprüfen, man solle nochmal nach hause fahren und sich ausschlafen – dann solle man anfangen, sich Sorgen zu machen. Da hatte ich etwas gestutzt, denn das mit den Gerinnungsfaktoren – genau das hatten sie bei Liese auch gesagt – aber ich beruhigte mich selbst damit, dass ihr Blutbild so gut gewesen war. Dennoch schlief ich schlecht in der Nacht von Sonntag auf Montag. Wir hatten die Hoffnung, montags direkt entlassen zu werden, morgens stand aber noch ein MRT-Termin an und mein Gedankenkarussel drehte und drehte sich: MRT – Tumordiagnostik. Die Onkologie hatte ihre Spuren hinterlassen.
Zuerst war ich total überwältigt gewesen, mit welcher Stärke und Tapferkeit die Kinder auf der Onkologie ihre Krankheiten ertrugen. Ich fand es verwirrend, wie „normal“ der neue Alltag der betroffenen Familien wirkte, obwohl ihr Leben nun komplett verändert war. Eigentlich war hier ja gar nichts normal. Aber wie die Kinder auf den Ständern durch den Gang rollten, an den der Apparat und der Tropf befestigt war, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt – oder eben das Beste, was man aus der Situation machen könne. An den ersten beiden Tagen machten mich die ständig piepsenden Chemo-Geräte halb wahnsinnig, da hatten wir auch noch die kleine Löwin bei uns auf dem Zimmer. Die Geräte dürfen nur von besonders geschultem Personal bedient werden und jede Dosis muss von einem Arzt freigegeben werden. Wenn also ein Zyklus fertig ist, piepsen die Geräte sehr eindringlich. So lange, bis jemand kommt; und das kann etwas dauern. Die Medikamente machen die Kinder quengelig und aggressiv, sie können schlecht einschlafen und das Greinen hört man dann jeden Abend. Ich habe versucht, Liese zu erklären, warum die kleine Löwin so wenig Haare hat. Warum man die Familien der Onko-Kinder sofort erkennt, warum sie so gequält aussehen. Aber wie soll man einer 7jährigen etwas erklären, das man selber kaum erfassen kann?
Den Termin im MRT hat Liese dann ganz hervorragend gemeistert. Für das gute Stillhalten gab es auch ein extra Eis. Wir bekamen ein neues Kind auf’s Zimmer, nachdem wir seit Samstag allein gewesen waren. Ein ganz süßes Mädchen, zweieinhalb Jahre. Leukämie. Ursprünglich waren sie unter anderem in die Klinik gekommen, weil die Kleine öfter mal große, blaue Flecke hatte. Klingt wie eine Lappalie, war es aber nicht. Auch mit ihr haben wir ein wenig gespielt, damit die Mama mal raus kann. Beim Essen holen etwas später fand ich dann die total verweinte Mama des kleinen Jungen von der Onko, in Tränen aufgelöst. Die Therapie hätte nicht die gewünschte Wirkung erzielt, die Blutwerte seien nach wie vor schlecht. Die Therapie würde nun mindestens 3 Monate länger dauern, aber so richtig würden die Ärzte nicht rausrücken mit der Sprache. Traurig ging ich in unser Zimmer zurück, wo kurz darauf das kleine Mädchen an die Chemo angeschlossen wurde. Sie schrie wie verrückt, sie wolle nach hause. Zu dritt versuchten sie, die Kleine zu beruhigen. Ihre Schreie gingen uns durch Mark und Bein, wir wollten nur noch weg, genau wie die Kleine. Als es geschafft war, holte die Mama eine kleine Box heraus, damit die Kleine drei Daumennagel große Perlen auffädeln konnte. Es war ihre Kette aus Mut-Perlen. Für jede Chemo, für jede schmerzhafte Untersuchung oder OP, für jeden besonders guten oder besonders schweren Tag bekommen krebskranke Kinder eine Mut-Perle, die sie auffädeln können und die sie daran erinnern, was sie alles schon überstanden haben. Wie viel Kraft in ihnen steckt. Auch wenn die Diagnose der Kleinen erst zwei Monate zurücklag, war ihre Kette schon deutlich über einen Meter lang.
Wir durften später ein wenig mit der Physiotherapeutin in die Turnhalle, damit sie schauen könne, ob Liese sich richtig bewegen kann. Sie war sehr zufrieden mit ihr und kam zu dem Schluss, dass die Kleine keinerlei Bewegungseinschränkungen hat und man ihr so gut wie gar nicht anmerkt, dass sie überhaupt etwas am Knie gehabt hatte. Als dann die Ärzte kamen zur Visite, inklusive Chefarzt, waren sie recht kurz angebunden. Die Auswertung des MRTs würden sie erst Ende der Woche erwarten, dann könnten wir anrufen. Sie wüssten nicht genau, was genau das jetzt gewesen wäre, vielleicht ein abgeknicktes Blutgefäß oder vielleicht auch ein Blutschwämmchen, sie würden aber nichts Gravierendes erwarten und uns gern nach hause schicken.
Wir waren so froh, dort raus zu kommen, es konnte mir nicht schnell genug gehen. Wir dachten tatsächlich, wir hätten es überstanden.
Donnerstag rief dann die Ärztin aus der Pädiatrie an, dass sie im MRT doch etwas Auffälliges gesehen hatten. Mit mehreren Ärzten hätten sie drauf geschaut und waren sich einig gewesen, die Kleine müsste operiert werden und sie hätten das an die Orthopädie übergeben, die alles Weitere mit uns besprechen wollte. Ein Orthopäde rief dann auch an, erzählte Rajko, Liese hätte eine Wucherung der Gelenkhaut, die die Gelenke zerstören könne und sollte so schnell wie möglich operiert werden. Das würde eine Vollnarkose, Schmerzkatheter und eine Woche Krankenhaus mit sich bringen, aber Anfang Oktober hätten sie einen Termin dafür frei. Der Gatte sagte natürlich erst mal zu, ebenso wie den Termin zur OP-Vorbesprechung Ende September. Der Arzt wollte uns noch Informationen dazu schicken, aber nach 3 Tagen bekamen wir lediglich einen Info-Bogen zur OP, auf dem stand, dass wir eine Einweisung mitbringen müssten, das Kind zu baden hätten, die Haare zusammen zu binden seien und so weiter. Wir fanden das irgendwie komisch, denn Liese ging es sehr gut. Sie hatte keine Schmerzen mehr und überhaupt keine Beschwerden mit dem Knie. In der nächsten Woche rief ich im Krankenhaus an, um den Befund zu bekommen, aber die Dame in der Orthopädie sah keinen Befund im System. Da auch bei unserer Kinderärztin kein Arztbrief ankam, hatten wir die Sache schon als „wohl doch nicht so akut“ abgehakt; wir dachten, das Krankenhaus würde bei einer richtig ernsten Sache auch anders damit umgehen.
Über eine Woche später rief mich dann der Orthopäde zurück und ich machte ihn darauf aufmerksam, dass wir immer noch keinen schriftlichen Befund hätten. Ich fragte ihn, welche Beeinträchtigungen nach der Arthroskopie zu erwarten wären, weil die Schule nicht barrierefrei wäre und ich gelesen hatte, dass mitunter auch längere Zeit (9-12Monate) kein Sport gemacht werden könne; aber der Arzt konnte mir nicht sagen, inwieweit das bei Liese zutreffen könne. Ich wies ihn darauf hin, dass das Kind beschwerdefrei sei und die Krankheitsgeschichte noch nicht mal einen Monat lang sei und fragte ihn, ob man das nicht noch etwas beobachten könne. Da brauste er auf, dass es ja wohl nicht um die Entscheidung ginge, ob eine OP gemacht würde oder nicht. Diese Krankheit würde Gelenke zerstören, wenn man nicht direkt agiere. Auf meinen Einwand, dass wir die Lage überhaupt nicht einschätzen könnten, weil wir eben immer noch nichts Schriftliches von der Klinik hätten, ging er dann ein, gestand auch ein, dass er das Kind ja noch nie gesehen hätte und sagte mir die Diagnose noch einmal ganz langsam: Pigmentierte villonuduläre Synovialitis. Tatsächlich sagte dieser Orthopäde, als ich mitschrieb, dann sogar noch so komisch am Telefon, ich solle das ruhig mal im Internet nachschlagen, dann würde ich es schon sehen. Als ich das tat, fühlte ich mich wie von einem Vorschlaghammer getroffen. Ein gutartiger Riesenzelltumor, ein extrem seltener. Die Häufigkeit dieser Diagnose liegt bei 1,8 zu 1 Million.
Ich rief sofort den Gatten an, der beschwor, dass in den vorherigen Telefonaten nie davon die Rede gewesen sei, dass es so etwas Ernstes ist. Ich machte für den nächsten Morgen direkt einen Termin bei unserer Kinderärztin und kam endlich an den schriftlichen MRT-Befund und den Arztbrief aus der Pädiatrie. Ich war total am Boden zerstört. Als Liese 10 Minuten später von der Schule heimkam und mich sah, versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie genau sah, dass irgendetwas absolut nicht stimmte. Am nächsten Morgen beim Frühstück fragte sie mich, ob sie nun sterben müsse.
Unsere Kinderärztin nahm sich sehr viel Zeit für uns. Sie kannte PVNS wegen seiner Seltenheit nicht, gab das aber offen und ehrlich zu, was ich ihr hoch anrechne. Sie schickte uns schließlich raus und telefonierte sehr lange mit der Klinik. Sie fand es unmöglich, dass mit einem onkologischen Befund derart umgegangen wurde, telefonierte sich durch die Abteilungen und setzte sich dafür ein, dass sich ein interdisziplinäres Team zusammensetzt, um Therapie und Prognose zu besprechen. Sie gab uns mit auf den Weg, zu der OP-Vorbesprechung zu gehen und eine diagnostische Arthroskopie zu machen, bis dahin aber nicht diese Diagnose zu glauben. Sie konnte uns ein wenig beruhigen, aber wir liefen trotzdem auf Ausnahmezustand. Als ich am nächsten Tag heimkam, stand Liese mit ihrem Schlüssel in der Hand vor der Tür. Sie hatte die Tür nicht aufbekommen und in die Hose gemacht. Als wir dann in der Wohnung waren, brach sie in Tränen aus und schluchzte, dass das bestimmt an diesem komischen Ding in ihrem Knie lag. Das würde ihr alle Kraft nehmen und deswegen hätte sie die Tür nicht aufbekommen.
Ich las alles über diese Krankheit. Ich las Fachartikel, ich las Konferenzbeiträge, ich las in Radiologie-Büchern. Ich fand heraus, dass es spezialisierte Arbeitsgruppen für diese seltene Erkrankung gab, in München. Ein Tumorzentrum in Essen und eine Kinderklinik in Hamburg, die PVNS behandeln. Überall war angegeben, dass es extrem hohe Rezidiv-Raten gab, bis zu 80%, vor allem bei Operateuren, die keine Erfahrung mit dieser Erkrankung haben und wenn die Therapie nicht sorgfältig geplant wurde. Ich stöberte in Betroffenen-Gruppen, fand reihenweise Schicksale von PVNS-Patienten mit mehrfachen Rückfällen und vielen, vielen OPs und dass nicht wenige von ihnen früher oder später mit einem künstlichen Kniegelenk endeten. Kann man sich permanente Schmerzen und jährliche Knie-OPs für das eigene Kind vorstellen? Ich telefonierte mit einem befreundeten Radiologen, der diese Diagnose in seiner gesamten Laufbahn erst 3 mal sah, immer nur bei älteren Leuten und der mir bestätigte, dass es im MRT auch Verwechslungsmöglichkeiten gäbe. Ich las in Fachartikeln, dass die Erkrankung nicht nur extrem selten ist, sondern dass sie bei Kindern quasi gar nicht vorkommt. Ein Kinderkrankenhaus in Buenos Aires (keine ganz kleine Stadt) hat alle 2 Jahre mal einen Fall. In einer retrospektiven Studie der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft über einen Zeitraum von 20 Jahren an 10 verschiedenen Behandlungszentren war von 173 Fällen die Rede, davon nur zwei bei Kindern. Ich finde ja schon, dass meine Tochter etwas ganz Außergewöhnliches ist. Aber auch, dass wir für so eine Diagnose viel zu durchschnittlich sind. Außerdem machte sie doch einen komplett gesunden Eindruck?
Wir versuchten, uns noch ein schönes Wochenende zu machen, feierten ihren 7. Geburtstag und fuhren montags in das Krankenhaus zur OP-Vorbesprechung. Da wir einen Termin hatten, kamen wir recht schnell dran. Es stellte sich schnell heraus, dass eigentlich gar keine weiteren Untersuchungen oder Gespräche über die Diagnose geplant waren. Wollten diese Ärzte tatsächlich ein gesund wirkendes Kind aufgrund einer extrem unwahrscheinlichen Diagnose am Knie operieren, ohne diese Diagnose noch einmal zu überprüfen? Die Assistenzärztin in der Ambulanz war zwar sehr nett, hatte PVNS aber auch noch nie gesehen. Sie untersuchte Liese und wurde dann auch etwas stutzig, als sie ein komplett beschwerdefreies Kind vor sich hatte, dass sich absolut normal bewegte. Wir bestanden darauf, dass noch ein Ultraschall gemacht wird, die Bilder mit uns durchgegangen werden und wir mit einem Arzt aus dem pädiatrischem Team sprechen, aus deren Abteilung der Befund kam. Ich machte sehr deutlich, dass ich nicht mit dem Orthopäden sprechen möchte, der am Telefon so unmöglich gewesen war und durch unseren Tonfall und unser Auftreten merkte sie wohl, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Ich ging dann mit Liese zum Ultraschall, aber die Radiologin mauerte total. Natürlich würde sie den Befund kennen, der würde ja schließlich aus ihrer Abteilung kommen. PVNS wäre gar nicht so selten, auch wenn sie sich nicht erinnern könne, ob und wann das in dieser Klinik schon mal diagnostiziert oder behandelt wurde. Ich fragte sie, ob es normal wäre, dass die Ausdehnung eines Tumors im MRT nicht vermessen würde, um später eine Entwicklung des Wachstums einschätzen und eine OP vorbeireiten zu können – denn es standen keine Messungen im Befund. Und sie sagte tatsächlich: Ja, das wäre normal, dass keine Messung vorgenommen würde. Ich war bei dieser Aussage zu einem Tumorbefund extrem geschockt, wird doch jede Zyste und jedes blöde Myom immer genau dokumentiert, um die Entwicklung einschätzen zu können. Und hier, kurz vor einer Knie-OP wegen einer Krankheit, die immer wieder kommt, wenn der erkrankte Bereich nicht sehr gewissenhaft entfernt wird, sollte das plötzlich anders sein? Die Radiologin zeigte uns nichts im Ultraschall, sie sprach kaum ein Wort mit uns und schrieb schließlich eine Art vorläufigen Fake-Befund, der absolut nicht zum Krankheitsbild oder vorherigen MRT-Befund passte.
Als wir zurück kamen, erwartete uns der Orthopäde und wollte mit uns sprechen. Aber als ich ihn sah, machte ich auf dem Absatz kehrt. Ich ließ ihn stehen und rief ihm noch im Gehen zu, dass ich mit ihm nicht sprechen werde. Umstehende Ärzte, Schwestern und auch er selbst waren sichtlich geschockt. Ego angekratzt. Oberärzte werden vermutlich sonst eher nicht so behandelt. Dem Gatten gegenüber räumte er dann auch ein, dass es sehr schwierig würde, wenn das Vertrauensverhältnis einmal derart zerstört sei. Sie sprachen eine Weile und der Liebste holte mich ein wenig später dazu, als ein Onkologe aus der Pädiatrie dazukam und der Orthopäde das Feld räumte. Auch der Onkologe (deutlich über 50) hatte in seiner gesamten Laufbahn erst ein oder zwei Fälle von PVNS gesehen, konnte den vollen Namen der Krankheit auch nicht richtig aussprechen, versuchte aber, uns zu beruhigen. Ich sagte ihm ins Gesicht, dass ich diese Art des Umgangs mit so einer Diagnose sehr unseriös finde, dass man so etwas nicht am Telefon bespricht und dass es unmöglich ist, am Telefon zu einer OP gedrängt zu werden, ohne dass einmal in Ruhe die Diagnose durchgesprochen wird. Ich sagte ihm, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Ärzte der Klinik sich alle irren, höher ist als die, dass unsere Tochter diese Krankheit erwischt. Woher ich die Kraft und den Mut nahm, derart unverschämt mit den Oberärzten umzuspringen, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich vor Wut gezittert habe.
In der Zwischenzeit hatte der Orthopäde uns sehr spontan einen weiteren MRT-Termin organisiert. Ich hatte das Gefühl, sie wollten in dem Moment nur noch den Schaden begrenzen. Die Kleine, die den ganzen Ärger und die Wut natürlich voll mitbekommen hatte, hielt wieder ganz tapfer still im MRT. Die Radiologin, dieses Mal war eine sehr kompetente und freundliche, junge Ärztin, war die einzige (ich hatte wirklich jeden Arzt gefragt), die schon einmal PVNS bei Kindern gesehen hatte. Allerdings nicht in dieser Klinik, sondern in der schweizer Spezialklinik, in der sie kurz vorher beschäftigt war. Sie nahm sich sehr viel Zeit und ging mit uns die Bilder durch. Sie beantwortete Fragen und Einwände sehr geduldig, sie überlegte mit uns gemeinsam; man merkte, dass es ihr selber auch wichtig war, dieses Rätsel zu lösen. Nach einigem Überlegen sagte sie dann schließlich die Worte, die für uns wie eine Erlösung waren: PVNS ist die unwahrscheinlichste Diagnose. In der Spezialsequenz, die sie gefahren hatte, konnte sie einige charakteristische Merkmale von PVNS nicht finden. Eigentlich wäre die einzige mögliche Diagnose nun nur noch ein Hämangiom.
Ein Hämangiom, ein Blutschwämmchen. Das war dieses kleine Ding, was der Chefarzt bei der Entlassung schon vermutet hatte. Das abschließende Gespräch mit dem Orthopäden, dieses Mal ließ ich mich auf den Mann ein, ergab, dass sich der zügige OP-Termin erübrigt hat. Nicht nötig, abgeblasen. Ein Blutschwämmchen ist zwar auch ein gutartiger Tumor, zeigt aber in der Regel kein so aggressives Wachstum und kann sich mitunter sogar von selbst zurückbilden. Das Hämangiom kann man gut erst einmal beobachten, im Abstand von 6 Monaten, und gegebenenfalls eine OP planen, falls es wiederholt Schwierigkeiten machen sollte. Uns fielen tausend Felsbrocken vom Herzen.
Unglaublich, wieviel Kraft es gekostet hat, die Ärzte dazu zu bewegen, doch noch einmal genauer hinzuschauen. Unglaublich, wie sehr einen so eine Diagnose aus der Bahn wirft, wenn es das eigene Kind trifft, dass eine schwere Krankheit haben soll. Und unglaublich, wie sehr mein Vertrauen in die medizinsiche Versorgung erschüttert ist durch diese Fehldiagnose. Es ist leider nicht das erste Mal, dass ich eine „dumme Geschichte“ mit Ärzten erlebe, aber es ist mit Abstand die Gravierendste. Das Schlimme dabei ist, dass eigentlich jeder, dem man so etwas erzählt, auch eine „dumme Geschichte“ parat hat, wo etwas ziemlich schief lief und dass sich keiner überrascht zeigt bei ärztlichen Fehlern. Wobei ich Fehler nur menschlich finde, aber die Unfähigkeit, diese einzugestehen, die Unfähigkeit mal eine Entschuldigung zu äußern, das ist es, was mir zusetzt.
Und jetzt? Wir versuchen, irgendwie wieder in den Alltag zurück zu finden, auch wenn eine unterschwellige Angst immer noch da ist. Wir sind dankbar über unser Netz an Freunden, die uns unterstützt haben. Die Fefi mit zu sich genommen haben, um uns zu entlasten, die selber bei befreundeten Ärzten nachgefragt haben. Die uns einfach nur zugehört und unterstützt haben. Wir sind froh, dass wir aus diesem Albtraum erwachen konnten, auch wenn das anderen nicht vergönnt ist.