Wir hatten uns vor ein paar Tagen schon verabredet. Es ist verhältnismäßig kalt für einen rheinischen Winter, so kalt, dass an den Gräsern Frost hängt und die Pfützen zufrieren. So kalt, dass sogar die Seen und Kanäle in Köln von einer dickeren Eisschicht überzogen sind. Also hatten wir uns zum Schlittern verabredet, nach der Kita, mit einer guten Freundin, deren Kinder gute Freunde meiner Kinder sind. Liese hatte ich schon früh abgeholt, aber irgendwie war uns doch Zeit abhanden gekommen, so dass wir etwas später als geplant an der Kita waren. Es war trüb und düster und mistig, nicht so schönes Kaiserwetter wie am Wochenende, als wir den Ausflug geplant hatten. Also hatte ich gar nicht so recht Lust, zum Kalscheurer Weiher zum Schlittern zu fahren, Ronja eigentlich auch nicht, aber dann wurden wir doch überstimmt. Bis alle Kinder mit Matschsachen, Handschuhen und einer Brezel ausgestattet waren, dauerte es dann noch etwas. Es wurde also noch später, noch düsterer.
Ein bisschen mussten wir da lachen. Wir witzelten, dass es wahrscheinlich dunkel ist, bis wir ankommen. Es war schon kurz vor fünf, halb sechs sollte die Sonne untergehen. Zum Glück ist es nicht so weit zum Kalscheurer Weiher, so dass wir es tatsächlich im Hellen schafften. Der Schnee, der über Nacht gefallen war, war weggetaut, aber auf dem See, da lag noch welcher. Wie ausgegossen sah er aus, mit seinem schwarzen Eisspiegel, der Schnee dünn darüber gezuckert. Die Kinder fingen sofort Feuer. Sie tobten über den See. Vor allem mein Kleiner flitzte so schnell weg, dass ich ihn ermahnen musste. Vom Rand aus war das Eis in der Mitte des Weihers schwer einzuschätzen. Aber eigentlich sah alles sicher aus, weiter hinten spielten eine Gruppe Eishockey, mehrer Leute liefen Schlittschuh.
Ich weiß nicht mehr, wie es kam, aber irgendwie hatten die Kinder und eine Schlittschuhläuferin sich gegenseitig in ein Gespräch verwickelt. Sie diskutierten über Eis und Schnee. Die Leichtigkeit, mit der man mit absolut Fremden in ein lockeres, freundliches Gespräch kommt, wie beseelt man wieder auseinander geht. Das kenne ich nur aus dem Rheinland, vor allem aus Köln. Also sprachen wir darüber, wie lange es schon kalt war, wie dick das Eis. Dann gingen wir wieder unserer Wege, die Schlittschuhläuferin lief ihre Kurven, wir rutschten mit den Kindern über das Eis. Den Schnee schoben wir mit den Schuhen beiseite, so dass wir über die schwarze Fläche schlittern konnten. Kleine Luftblasen konnten wir in der Tiefe erkennen, aber das Eis war dick. Und wir träumten, wenn wir jetzt Schlittschuhe hätten, wäre das schön! Also taten wir ein bisschen so, streckten die Arme aus und stellten uns vor, da wären Kufen unter den Schuhen.
Der Kleine schaute sich gerade die Solaranlage an, die Mitten im Weiher normalerweise im Wasser und jetzt auf dem Eis schwebt, als die Schlittschuhläuferin in einem Bogen zu uns fuhr. Wie schön es ist auf dem Eis, unterhielten wir uns. Da erzählte ich ihr, dass wir uns gerade schon Schlittschuhe gewünscht hätten, wie schön das wäre! Sie lächelte, als sie sagte, sie hätte immer Schlittschuh im Auto dabei. Für Freunde, falls jemand mal keine dabei hat. Dann fragte sie, ob sie die nicht holen sollte, dann könnten wir fahren. Natürlich wollte ich ihr keine Umstände machen, denn zum Parkplatz ist es ein Stückchen. Außerdem würde es ja gleich dunkel werden. Sie sah mir ruhig in die Augen und sagte:
Aber jetzt sind wir hier!
Doch ich musste hinter meinem Sohn her, der wieder weggeflitzt war. Der Satz hallte in mir nach. Sie hatte so recht. Ich weiß nicht, warum mich ihre Aussage so gefangen hielt, ob es der Gedanke an die Verluste aus dem letzten Jahr war oder an die Freundin, die seit Jahren gegen den Krebs um ihr Leben kämpft. Oder ob es der Kinofilm vom Vortag war, wir schauten Manchester by the sea, der so eindrucksvoll zeigte, wie vergänglich gläsern Glück ist. Wie einem das Leben zwischen den Fingern zerrinnen kann, und man ist nur machtloser Beobachter. Wie zersplittert leer eine Seele nach einem großen Verlust ist. Wie wichtig es ist, die hellen Momente zu bewahren, auch wenn sie ganz klein sind. Mein Name wurde gerufen, das riss mich aus meinen Gedanken. Meine Freundin kam hinter mir her, etwas fassungslos, aber freudestrahlend und erzählte mir, die Schlittschuhläuferin würde jetzt Schlittschuhe holen.
Die kleinen Jungs quatschten mit den großen Jungs vom Eishockey. Dann machten wir eine Schneeballschlacht. Dann rutschten wir entlang der Schlittschuhspuren. Wir lachten viel. Wir warteten. Über der Warterei wurde es dunkel. Mittlerweile waren wir die einzigen auf dem See. Wir fragten uns schon ein wenig, ob sie wirklich wiederkommen würde, da glitt sie über das Eis. Links und rechts bepackt mit Schlittschuhen, außerdem einer Ledertasche für ihre eigenen Schuhe. Wir setzten uns an den Rand. Sie hatte zwei Paar Schlittschuh dabei in unterschiedlichen Größen, die genau auf meine Freundin und mich passten. Was für ein Zufall! Immer hätte sie die dabei, erzählte sie, falls einmal Freunde dabei wären, die keine hätten. Das wäre doch dann traurig und bei diesem Wetter sollte keiner ohne Schlittschuhe sein! Die Kinder machten große Augen, eigentlich wollten sie auch gern welche.
Als ich die ersten Schritte wagte, versuchte ich mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal Schlittschuh gelaufen war, aber es fiel mir nicht ein. Eigentlich war ich noch nie richtig Schlittschuh gelaufen, irgendwann einmal in der Schulzeit hatte ich es wohl ausprobiert. Ein einziges Mal. Nach ein paar Schritten ging es ganz gut. Wir glitten über das Eis, auch die erste vorsichtige Kurve glückte. Es war fast dunkel, die blaue Stunde brach an. Aber man braucht keine Sonne, wenn man Schnee hat, der leuchtet. Wir wurden schneller, mutiger. Wir drehten uns und drehten uns um die Kinder. Die fanden es ganz toll, wie wir über das Eis fuhren. Weite Kurven, enge Drehungen und zum Glück nicht hingefallen. Nur mit dem Gewicht gelenkt einen Kreis gefahren, auf einem Bein, dass das klappen kann! Es war so schön, dass wir ganz voller Glück waren. Es stieg uns bis in die Ohrenspitzen und ließ sie rot strahlen. Wir waren so voll Freude, dass es auf Natascha abfärbte. So hieß die Schlittschuhläuferin, das hatten wir eben auf dem Eis erfahren. Sie lachte nur noch, weil sie uns mit ihrer kleinen Geste so viel Glück beschert hatte.
Wir fuhren bis es dunkel wurde, sogar noch länger. Dann waren die Kinder nass und kalt, außerdem war Abendbrotzeit. Also Schuhe gewechselt, die Kinder in eine Decke gewickelt. Drei paar Schlittschuh lud ich auf mein Fahrrad, damit Natascha sie nicht bis zum Parkplatz tragen musste. Dann brachen wir auf, vollgetankt mit Kraft für den nächsten Tag, beseelt von der Freude. Die Kinder bekamen ihr Abendbrot direkt in der Badewanne, damit sie sich aufwärmen und satt essen konnten. Dann fielen sie erschöpft ins Bett, genau wie ich etwas später.
Ihre Schlittschuhe hat mir Natascha übrigens gleich mitgegeben, sie hat sie mir ausgeliehen. Denn heute nachmittag, da treffen wir uns wieder am Kalscheurer Weiher. Wir wollen Schlittschuh laufen.